Bevor ich über Aphantasie gelesen habe, ist mir kein Mangel aufgefallen: Ich habe zwar kein Bild von einem Foto vor Augen, aber würde man mir ein Bild aus meiner Fotosammlung zeigen, wüsste ich sofort, dass es dazugehört oder nicht. Eine Szene aus einem Film bräuchte nicht lange laufen, und ich würde sie als schon einmal gesehen identifizieren. Bevor ich auf den Namen käme, wäre mir der Ort eines bekannten Bildes bewusst. Ebenso würde ich eine Person erkennen. Allerdings habe ich eine Abneigung, Dinge in Schubladen zu lagern, wie manch andere gerne tut, dann verschwindet es bei mir leicht in Vergessenheit.
Vor vielen Jahren las ich über die Gehirnforschung, dass nur eine Gehirnhälfte Zugang zum Bewusstsein hat. Hat Aphantasie damit zu tun, dass zwar sehr viele Bilder im Gehirn gespeichert sind (manche behaupten, man vergisst nichts), wir aber nicht aktiv darauf zurückgreifen können. Psychiater behaupteten, es ginge mit Hypnose. Was weiß die heutige Wissenschaft darüber?

Hallo Frank,
das ist eine sehr wichtige Perspektive, der ich in Teilen zustimme. Der Begriff "Störung" ist meiner Meinung nach tatsächlich ungeeignet, ich habe ihn der Einfachheit halber lediglich aus dem zitierten Paper übernommen (eng. "deficit"). Die Perspektive von Aphantasie als Defizit kommt wahrscheinlich daher, dass die meisten Menschen sich etwas vorstellen können und diese "Pseudohalluzinationen" somit die Norm darstellen. Bei Normabweichungen wird dann häufig auf eine Störung geschlossen, weil irgendetwas in den Gehirnen dieser Wenigen anders funktionieren muss. Persönlich bevorzuge ich allerdings einfach den Begriff der Neurodivergenz, wie ich ihn auch schon viele Male in der Forschungsliteratur verteidigt habe (z. B. [1]), da Aphantasie zwar anders ist, aber sowohl mit Vor- als auch mit Nachteilen einhergeht.
Wo ich nicht mitgehen würde, ist stattdessen das Vorstellungsvermögen als Störung zu bezeichnen. Auch dieses hat sowohl Vor- und Nachteile und ist somit ebenfalls Teil normaler menschlicher Variation, das heißt Teil der menschlichen Neurodiversität.
In diesem Sinne wäre es wahrscheinlich am sensibelsten, einfach von Unterschieden in diesen Prozessen zu sprechen.
Liebe Grüße Merlin
Quellen: [1] Monzel, M., Dance, C., Azañón, E., & Simner, J. (2023). Aphantasia within the framework of neurodivergence: Some preliminary data and the curse of the confidence gap. Consciousness and Cognition, 115, 103567.