Ganz offensichtlich fehlen den Aphantasisten Fähigkeiten, Arbeiten gut auszuführen, die bildliches Vorstellungsvermögen voraussetzen.
Man erzählte mir, dass ich als Kind jedes Geschenk auseinander nahm, so es denn möglich war. Es danach wieder zusammen zu bauen, gelang mir wohl meistens. Die Berufsberatung empfahl mir bei Abschluss der Realschule die Ausbildung zum Maschinenbautechniker. Ich blieb dann aber wegen Abneigung zum Bürojob beim Abschluss als Maschinenschlosser. Obwohl ich gern montierte, war ich dafür nicht gut geeignet (wegen Aphantasie, wie ich jetzt weiß). Meine Stärken waren im technische Zeichnungen lesen und sie auf Werkstücke umzusetzen, dabei sich immer neue (bessere) Wege auszudenken.
Damals wussten die Berufsberater nichts von Aphantasie. Ist es heute anders? Ich meine, es wäre sehr wichtig.
Wie ist eure Erfahrung dazu?
Es wäre sicher interessant zu wissen wie stark die Einflüsse von Aphantasie auf die tatsächlich berufsrelevanten Fähigkeiten sind. Ich habe erst vor ein oder zwei Jahren von Aphantasie gelesen und konnte demnach während der Schulzeit und bei der Wahl des Studiums niemanden aktiv danach fragen. Allerdings hat mir ein Berufsberater auch gesagt ich möge doch bitte Journalist werden und bloß nichts technisches, da ich zu schlecht in Mathe wäre... (zu dem Zeitpunkt stand ich im Abi mit Leistungskurs Mathe+Physik mit gute Noten kurz vor meinem Abschluss...). Schlussendlich habe ich Wirtschaftsingenieurwesen studiert und gestalte heute Prozesse, Methoden und Werkzeuge für Entwicklungsprozesse - also durchaus abstrakte Tätigkeiten. Diese Themen greifbar zu machen und für andere eingängig zu visualisieren scheint mir aber überdurchschnittlich gut zu gelingen...
Das mit der Berufswahl finde ich total spannend. Ich denke, dass in der Berufsberatung die wenigsten über Aphantasie bescheid wissen. Das darf sich noch alles entwickeln. Ich habe aber aktuell eine Sachbearbeiterin, die mich individuell coacht und Aphantasie kennt. Ich hatte richtig Schwierigkeiten bei meiner Berufswahl. Für mich war es quälend zu entscheiden, welchen Weg ich gehen sollte. Während der Schulzeit (Abschluss Abitur im 2. Anlauf) hatte ich nichts gefunden, was mich wirklich interessiert hätte. Zwar fand ich Biologie sehr interessant in Bezug auf den Menschen und auch kreatives, abstraktes Gestalten im Kunstunterricht, doch ein Medizin- oder Kunststudium kam für mich nicht in Frage als erstes von 4 Geschwistern und den damit verbundenen finanziellen Hürden. Auch Lernen an sich war für mich eine Qual, weil ich nicht stupide alles auswendig lernen und wieder abrufen konnte so wie die meisten anderen meiner MitschülerInnen. Ich musste Dinge und Sachverhalte verstehen, damit ich sie wieder effektiv und anwendbar abrufen konnte. Was sich mir nicht erschloss, war schlichtweg nicht mehr wirklich abrufbar. Nur unter großem Zwang und Druck kam etwas wieder aus mir heraus. Aber auch nur, weil ich es ständig wiederholt habe. Hatte ich mich länger mit bestimmten Lerninhalten nicht beschäftigt, so musste ich mir das wieder neu aneignen. Ziemlich energieaufreibend und zermürbend. Bei all der Flut an Lerninformationen, denen man damals ausgesetzt war, frage ich mich bis heute, wie ich mein Abitur überhaupt geschafft habe oder ob man mich einfach nur durchgewunken hat. Letztendlich fiel meine Berufswahl auf die Krankenpflege. Das war für mich der tragbarste Kompromiss, mit dem ich leben und mir meine Existenz sichern konnte. Es schob sich zwar noch eine Rettungssanitäterausbildung im Zivildienst davor, aber ich wollte, wenn ich schon kein Arzt werden konnte, wenigstens so nah wie möglich an dieses Berufsfeld herankommen, in dem ich eine Qualifizierung in der Intensivkrankenpflege anstrebte. Im Nachhinein hab ich mich eher intuitiv mit psychologischen Themen auseinandergesetzt. Theoretisch wäre vom Interessengebiet her auch ein Psychologiestudium eine Option gewesen. Aber das war mir zum damaligen zeitpunkt nicht bewusst gewesen. Aussschlaggebend für meine soziale Berufswahl vermute ich meine Kindheitsprägungen durch meine Eltern, die selbst sehr stark religiös orientiert waren und mich mit entsprechenden Wertevorstellungen versehen haben. Kurzum, um es abzukürzen, musste ich ein halbes Jahr vor Erreichen des Abschlusses in der Intensivkrankenpflege in der Schweiz dann aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und wieder zurück nach Deutschland ziehen. Ich landete dann im Burnout und einer mittelgradigen Depression, weil ich meinen "angeblichen" Traumjob in der Intensivkrankenpflege nicht mehr ausüben konnte. Bei der ganzen psychischen Aufarbeitung bin ich dann über meine fehlenden Visualisierungsfähigkeiten zu der Erkenntnis gekommen, dass ich aphantastisch veranlagt bin. Ich habe bis dato immer noch nicht alles aufgearbeitet und bin auch seit meinem Burnout nicht mehr arbeitsfähig geworden. Ich bin immer noch dabei mich zu finden und zu verstehen, warum mein leben so einen Verlauf genommen hat. Aber ich bin auch dankbar für diese spannende Reise zu mir selbst, bei der die Aphantasie eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Mittlerweile weiß ich, dass ich meine Berufswahl eher aufgrund meiner Prägungen aus der Kindheit gewählt habe, anstatt auf das zu hören, was mir mein Herz gesagt hat. Scheinbar konnte ich damals mein Herz nicht hören. Auch heute ist es noch herausfordernd für mich. Ich denke, da steckt noch so einiges mehr als nur Aphantasie dahinter. Aber ich bleibe neugierig und erforsche mich selbst weiter. Und mit diesem Forum werde ich nun endlich auch in den Austausch auf Deutsch gehen können. Aphantasie ist und bleibt ein spannendes Thema. Für mich ist sie aber nicht nur eine Wahrnehmungs- oder Verarbeitungsvariante, sondern sie hat auch eine belastende Auswirkung auf mich. Wie nehmt Ihr denn Eure Aphantasie wahr? Positiv oder negativ in Bezug auf Euer Leben und Eure Berufswahl(en)? Hält sich das in Grenzen oder in der Waage, oder wirkt sie sich nur partiell auf bestimmte Bereiche bei Euch aus?
Hi wvhoersten,
tatsächlich wissen wir noch nicht wirklich, wie sich Aphantasie auf die beruflichen Fähigkeiten auswirkt. In der Schule kommt es noch nicht zu unterschiedlichen Leistungen [1], trotzdem halten sich die Vermutungen zu Unterschieden in der Berufswahl hartnäckig. Diese gehen bereits ins Jahr 1880 zurück, in dem Galton vermutete, dass Aphantasisten eher wissenschaftliche Berufe ergreifen könnten, da diese eher durch abstraktes Denken gekennzeichnet seien [2]. Brewer und Schommer-Aikins konnten jedoch keine Hinweise auf schlechtere visuelle Vorstellungskraft bei Probanden mit wissenschaftlichem Hintergrund finden [3]. Eine neuere Studie geht davon aus, dass sich Hyperphantasisten eher von Berufen im Sektor ‘Arts, Design, Entertainment, Sports, and Media Occupations’ und Aphantasisten eher von Berufen im Sektor ‘Computer and Mathematical’/‘Life, Physical and Social Sciences’ angezogen fühlen [4]. Isaac und Marcs treffen noch spezifischere Aussagen für Berufe, in denen ein hohes Vorstellungsvermögen gefunden wird (z. B. Sportler und Piloten) [5]. Insgesamt scheint es aber vor allem so zu sein, dass die Selbstwirksamkeit für künstlerische Tätigkeiten bei Personen mit Aphantasie geringer ist [6], obwohl sich dies nicht unbedingt in tatsächlich schlechteren Leistungen in diesem Bereich äußern muss.
Liebe Grüße Merlin Quellen:
[1] Monzel, M., Dance, C., Azañón, E., & Simner, J. (2023). Aphantasia within the framework of neurodivergence: Some preliminary data and the curse of the confidence gap. Consciousness and Cognition, 115, 103567.
[2] Galton, F. (1880). Statistics of mental imagery. Mind, 5(19), 301-318.
[3] Brewer, W. F., & Schommer-Aikins, M. (2006). Scientists are not deficient in mental imagery: Galton revised. Review of General Psychology, 10(2), 130-146.
[4] Zeman, A., Milton, F., Della Sala, S., Dewar, M., Frayling, T., Gaddum, J., ... & Winlove, C. (2020). Phantasia–the psychological significance of lifelong visual imagery vividness extremes. Cortex, 130, 426-440.
[5] Isaac, A. R., & Marks, D. F. (1994). Individual differences in mental imagery experience: developmental changes and specialization. British Journal of Psychology, 85(4), 479-500.
[6] Crowder, A. (2018). Differences in spatial visualization ability and vividness of spatial imagery between people with and without aphantasia. Virginia Commonwealth University.