Ich möchte gern ein paar Erkenntnisse und Beobachtungen teilen. Ich habe keine konkrete Frage und kein besonderes Anliegen, aber vielleicht fühlt sich ja jemand angesprochen.
Mein Sport ist Klettern. Ich bin nicht besonders gut, aber ich mache es gern. Zuletzt habe ich mich u.a. mit Angst beim Klettern auseinandergesetzt. Was ich gerne teilen möchte:
- Visualisieren ist ein ganz wichtiger Aspekt beim Training. In einem Buch, das ich gelesen habe, schreibt der Autor: Nach einer Kletterroute soll man sich die ganze Route noch einmal in Erinnerung rufen – wie habe ich mich bewegt, wie hat sich dieser Griff angefühlt, wo war der gute Tritt, mit welcher Hand habe ich mich an diesem Griff festgehalten – und zwar aus der eigenen Perspektive als Kletterer. Und dann soll man dasselbe nochmal tun und sich von außen beobachten, wie man diese Route klettert, quasi aus der Vogel- oder Drohnenperspektive. Der Autor sagt nicht, dass das irgendwie schwierig sein könnte – er geht davon aus, dass man das natürlich kann. Offenbar speichern Leute also nicht nur das, was sie sehen, sondern ihr gesamtes Erleben quasi als multidimensionalen Film ab und können das wieder abrufen. Crazy! (Mir scheint allerdings aus meinem Austausch mit "Normalos", dass sie das auch nicht ohne weiteres können.) Ich selber komme nach dem Klettern unten an und weiß überhaupt nichts mehr davon, wie ich mich genau bewegt habe.
- In einem anderen Buch habe ich gelesen, dass man sich vorstellen soll, wie man eine – herausfordernde, vielleicht auch angstmachende – Route mit Selbstvertrauen und in einer positiven Stimmung klettert. Man soll sich vorstellen, wie man zu dieser Route hingeht, wie man seine Anfangsroutine macht, wie man einsteigt, wie man jeden Zug macht, wie sich die Griffe anfühlen. Wenn es eine Route draußen ist, darf man sich auch vorstellen, wie der Wind sanft weht und die Blätter rauschen. Dann klettert man diese Route flüssig durch, in Gedanken, und kommt oben glücklich an. Was ich rückblickend echt unfassbar finde: Ich habe das gemacht. Ich habe mich hingelegt, ein paarmal tief geatmet, und mir dann diese Route vorgestellt. Jedenfalls habe ich gedacht, dass ich das tue. Nur wusste ich da noch nicht, dass ich Aphantasie habe. Das, was ich da gemacht habe, hatte überhaupt nichts zu tun mit dem, was eigentlich gewollt war. Ich kann schwer beschreiben, was ich da genau gemacht habe bei dieser Übung. (Jetzt, wo ich weiß, dass ich es nicht kann, würde ich es gar nicht mehr versuchen.) Auch da – kein Wort davon, dass manche diese Übung vielleicht nicht machen können.
- In einem weiteren Buch steht, man könne überhaupt nur Fortschritte machen, wenn man sich eine bestimmte Bewegung im Geist BESSER vorstellen kann als man sie im echten Leben aktuell durchführen kann. Und da geht es wieder nicht nur um bildliche Vorstellung, sondern vor allem um die Bewegung und um den Tastsinn. Wenn ich das lese, frage ich mich langsam, wie ich überhaupt klettern kann, obwohl ich mir ja den nächsten Zug, die nächste Bewegung niemals bildlich oder körperlich oder „tastsinnig“ vorstelle …
- Und in noch einem Buch schreibt der Autor: Wenn er Angst bekommt und in eine in der konkreten Situation nicht hilfreiche Gedankenspirale gerät, dann stellt er sich einen großen roten „Stopp“-Knopf vor und wie er da fest draufdrückt, um diese Gedanken zu stoppen und sich wieder auf das konzentrieren zu können, worauf es in dieser Situation ankommt. Das hätte ich auch gerne.
Da kann ich nur sagen: Ich finde es wirklich traurig, dass mir das alles verschlossen ist. Und ich glaube, das lässt sich auf viele Bereiche übertragen – vermutlich wird auch bei sowas wie „Coaching für mehr Selbstvertrauen im Beruf“ oder "Umgang mit Stress" mit Visualisierung gearbeitet.
Das ist ja wunderbar - so ein frisches Forum und so eine kleine Zielgruppe, aber schon eine andere Kletterin! :) Offenbar kommen wir ja auch ohne Visualisieren irgendwie intuitiv ganz gut zurecht. Ich habe mir auch vorgenommen, es nicht ganz aufzugeben mit den Übungen zur mentalen Stärke und zum "Sich-Vorstellen" oder "Sich-Erinnern", wie man eine Route klettert.
Ich mache schon ein paar Jahre täglich Gymnastik nach YouTube - Videos mit, um in meinem Alter (65) fit zu bleiben. Um die gleichen Bewegungen simultan mitzumachen, muss ich mich konzentrieren. Oft ist es einfacher, erst das Geforderte zu sehen, die Augen zu schließen und die Aufmerksamkeit ganz auf mich zu richten. Besonders bei gleichzeitigem und entgegengesetzten Bewegungen (Herausforderung der Gymnastiklehrerin) fällt es mir dann leichter. Ich finde, schon das Zuhören und darauf Reagieren müssen nimmt einige Energie in Anspruch.
Hallo Gamsli, ich entdecke mich auch in einigen Deiner Schilderungen wieder. Besonders in der Klettergeschichte. Wenn ich mal Klettern war (Klettersteig oder Freeclimbing i.d. Halle), dann war der Aufstieg noch in Ordnung. Solange ich alles im Sichtfeld hatte, konnte ich auch alles einordnen. Sollte es aber den gleichen Weg zurückgehen, ging plötzlich nichts mehr. Hatte keine bildhaften Erinnerungen an meinen vorherigen Kletterweg. Und sehen konnte ich auch nichts mehr. Musste mich gerade im Klettersteig dann von der Person unter mir führen und leiten lassen, sonst wäre ich wohl nicht sicher heruntergekommen. Also Vorangehen beim Abstieg wäre nichts für mich gewesen. Das triggert mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke. Ein "blinder Abstieg" hat direkt massive Ängste in mir ausgelöst. Todesängste quasi. Mittlerweile habe ich deutliches Übergewicht und kletter auch nicht mehr. Von daher werde ich nicht mehr unbedingt mit diesen Ängsten konfrontiert. Aber es gibt noch genug andere Ängste. 😂 Ich habe in verschiedenen Coaching-Situationen erfahren dürfen, dass bildhaftes Vorstellen von etwas, was man erreichen will/ möchte, entsprechende Gefühle und Emotionen im Körper auslöst, die dann wiederum als Antrieb für den Weg bis zum Erreichen des entsprechenden Zieles wirken. Man kreiert quasi das entsprechende Wunsch- bzw. Zielgefühl und nimmt es als Leitgefühl, auf das man sich zubewegen will (Annäherungsverhalten; Drang nach Befriedigung des psychischen Grundbedürfnisses nach Lustempfinden). Bei mir hatte das nicht funktioniert. Vielmehr hatte das alles dann Frust in mir ausgelöst, weil bei mir keine Bilder vor meinem inneren Auge entstanden waren, die entsprechende "tolle" Gefühle und Emotionen in mir ausgelöst hatten. Das war quasi der Startschuss für mich genauer nachzuhaken und zu erforschen, was da mit mir los ist und anders abläuft. So bin ich über weitere Erfahrungen im Bereich Meditationen, geführte (Selbst-) Hypnosen und einem Inneres-Kind Coaching-Kurs zum Begriff der Aphantasie gelangt. Da hatte für mich dann endlich dieses Phänomen der fehlenden Visualisierungsfähigkeit einen greifbaren Namen. Ich probiere schon einige Jahre mit Visualisieren in Meditationen und Hypnosen herum, aber bisher ohne nennenswerten Erfolg. Ich setze mich damit nicht mehr unter Druck und akzeptiere einfach, dass keine Bilder entstehen oder wenn dann nur vage. Aber selbst Bilder enstehen zu lassen, also auf eine kreative Art und Weise, das klappt gar nicht. Da bleibt es einfach schwarz. Ich versuche nichts mehr zu erzwingen. Ich konzentriere mich daher auf die Dinge, die in Meditationen und Hypnosen klappen. Scheinbar habe ich als Aphantasiker/ Aphantasist/ Aphantast (?) durch fehlende bildhafte Ablenkung vor meinem inneren Auge die Möglichkeit und den Vorteil, dass ich mich einfacher auf das Loslassen von Gedanken konzentrieren kann. Aber auch Dank Hilfe von Autosuggestionen. Ich denke mir, wenn etwas nicht ist oder sein soll, dann darf man den eigenen Fokus auf die Dinge lenken, die funktionieren und klappen. So handhabe ich das mittlerweile persönlich und vermeide dadurch unnötig Ärger und Frust. Ich möchte meine Energie sinnvoller einsetzen.
Hallo Gamsli, ich kenne mich mit Klettern nicht sonderlich gut aus, möchte aber auf folgenden Satz von dir eingehen:
"(Jetzt, wo ich weiß, dass ich es nicht kann, würde ich es gar nicht mehr versuchen.)"
Die Forschungslage ist diesbezüglich zwar noch wenig ausgereift, aber es gibt erste Hinweise darauf, dass Aphantasisten auch von Vorstellungsübungen profitieren können, wenn sie versuchen diese durchzuführen, auch wenn dabei natürlich nicht wirklich eine Vorstellung entsteht [1]. Von daher kann ich dir nur raten, deine Strategie weiter zu versuchen, auch wenn sie schwer zu beschreiben ist (ich verstehe genau was du meinst). Sonst gerätst du in Gefahr, eine confidence gap aufzubauen, das heißt, dass du die Einschränkungen durch die Aphantasie als größer einschätzt, als sie tatsächlich sind [2].
Quellen:
[1] Monzel, M., Agren, T., Tengler, M., Karneboge, J., & Reuter, M. (2024). Stage 2 Registered Report: Propositional thought is sufficient for imaginal extinction as shown by contrasting participants with aphantasia, simulated aphantasia, and controls. Authorea Preprints.
[2] Monzel, M., Dance, C., Azañón, E., & Simner, J. (2023). Aphantasia within the framework of neurodivergence: Some preliminary data and the curse of the confidence gap. Consciousness and Cognition, 115, 103567.