Bevor ich über Aphantasie gelesen habe, ist mir kein Mangel aufgefallen: Ich habe zwar kein Bild von einem Foto vor Augen, aber würde man mir ein Bild aus meiner Fotosammlung zeigen, wüsste ich sofort, dass es dazugehört oder nicht. Eine Szene aus einem Film bräuchte nicht lange laufen, und ich würde sie als schon einmal gesehen identifizieren. Bevor ich auf den Namen käme, wäre mir der Ort eines bekannten Bildes bewusst. Ebenso würde ich eine Person erkennen. Allerdings habe ich eine Abneigung, Dinge in Schubladen zu lagern, wie manch andere gerne tut, dann verschwindet es bei mir leicht in Vergessenheit.
Vor vielen Jahren las ich über die Gehirnforschung, dass nur eine Gehirnhälfte Zugang zum Bewusstsein hat. Hat Aphantasie damit zu tun, dass zwar sehr viele Bilder im Gehirn gespeichert sind (manche behaupten, man vergisst nichts), wir aber nicht aktiv darauf zurückgreifen können. Psychiater behaupteten, es ginge mit Hypnose. Was weiß die heutige Wissenschaft darüber?
Hallo wvhoersten,
tatsächlich ist das eine Frage, mit der ich mich aktiv in meiner Doktorarbeit auseinandergesetzt habe.
Grundsätzlich unterscheiden wir bei Vorstellungsdefiziten zwischen drei Problemen [1]:
Störungen des visuellen Langzeitgedächtnis (= Speicherstörung)
Störungen der Vorstellungsgenerierung (= Abrufstörung)
Störungen der Metakognition (= Introspektionsstörung)
Bei einer Störung der Metakognition würden wir zwar Vorstellungen generieren, diese würden uns aber nicht bewusst werden. Diesen Prozess können wir mMn bei einem Großteil der Aphantasiefälle jedoch ausschließen, da Aphantasie auch unbewusste Prozesse verändert [2, 3] und zudem auch zu Unterschieden in der Gehirnaktivierung führt [4, 5].
Deine Frage bezieht sich jetzt auf die Unterscheidung zwischen Speicher- und Abrufstörungen. Entweder speichern Aphantasisten visuelle Informationen erst gar nicht oder sie können sie später einfach nicht mehr abrufen.
Wie du schon richtig angemerkt hast, deutet eine größtenteils erhaltene visuelle Wiedererkennungsleistung bei Aphantasie [6] darauf hin, dass die visuelle Information noch irgendwo gespeichert sein müsste. Dieses Argument kann aber tatsächlich auch kritisiert werden, weil es sein könnte, dass die Wiedererkennung auf Alternativstrategien beruht (z. B. feature-basierten Prozessen [7]. Es gibt aber noch weitere Befunde, die deine These stützen. So berichten zum Beispiel viele Aphantasisten visuell zu träumen [8, 9] und Einzelfälle von erworbener Aphantasie nach dem Konsum von psychoaktiven Substanzen visuelle Vorstellungen zu erleben [10]. Dies würde eindeutig darauf hinweisen, dass die visuelle Information irgendwo gespeichert sein muss und im Traum oder durch den Konsum der entsprechenden Substanzen der Zugang erleichtert wird. Daher würde ich ebenfalls vermuten, dass Aphantasie in vielen Fällen eine Abrufstörung ist. Dennoch können wir davon ausgehen, dass es verschiedene Formen von Aphantasie gibt [11]. Bei Aphantasisten, die nicht visuell Träumen und vielleicht auch eine schlechtere Wiedererkennungsleistung haben, setzt das Problem vielleicht schon bei der Speicherung an.
Bezüglich Hypnose haben wir leider noch zu wenig Erkenntnisse. Es ist aber durchaus denkbar, dass der durch Hypnose erreichte veränderte Bewusstseinszustand den Zugang zu den visuellen Informationen erleichtern kann - wie eben auch in Einzelfällen beim Konsum von psychoaktiven Substanzen. Das Hemisphärenmodell (das z. B. nur eine Gehirnhälfte Zugang zum Bewusstsein hat) gilt allerdings weitestgehend als überholt.
Quellen:
[1] Farah, M. J. (1984). The neurological basis of mental imagery: A componential analysis. Cognition, 18(1-3), 245-272.
[2] Keogh, R., & Pearson, J. (2018). The blind mind: No sensory visual imagery in aphantasia. Cortex, 105, 53-60.
[3] Keogh, R., & Pearson, J. (2024). Revisiting the blind mind: still no evidence for sensory visual imagery in individuals with aphantasia. Neuroscience Research, 201, 27-30.
[4] Monzel, M., Leelaarporn, P., Lutz, T., Schultz, J., Brunheim, S., Reuter, M., & McCormick, C. (2024). Hippocampal-occipital connectivity reflects autobiographical memory deficits in aphantasia. eLife, 13.
[5] Milton, F., Fulford, J., Dance, C., Gaddum, J., Heuerman-Williamson, B., Jones, K., ... & Zeman, A. (2021). Behavioral and neural signatures of visual imagery vividness extremes: Aphantasia versus hyperphantasia. Cerebral cortex communications, 2(2), tgab035.
[6] Monzel, M., Vetterlein, A., Hogeterp, S. A., & Reuter, M. (2023). No increased prevalence of prosopagnosia in aphantasia: Visual recognition deficits are small and not restricted to faces. Perception, 52(9), 629-644.
[7] Monzel, M., Handlogten, J., & Reuter, M. (2024). No verbal overshadowing in aphantasia: The role of visual imagery for the verbal overshadowing effect. Cognition, 245, 105732.
[8] Zeman, A., Milton, F., Della Sala, S., Dewar, M., Frayling, T., Gaddum, J., ... & Winlove, C. (2020). Phantasia–the psychological significance of lifelong visual imagery vividness extremes. Cortex, 130, 426-440.
[9] Dawes, A. J., Keogh, R., Andrillon, T., & Pearson, J. (2020). A cognitive profile of multi-sensory imagery, memory and dreaming in aphantasia. Scientific reports, 10(1), 10022.
[10] dos Santos, R. G., Enyart, S., Bouso, J. C., Pares, Ò., & Hallak, J. E. (2018). “Ayahuasca turned on my mind’s eye”: Enhanced visual imagery after ayahuasca intake in a man with “blind imagination”(aphantasia). Journal of Psychedelic Studies, 2(2), 74-77.
[11] Watkins, N. W. (2018). (A) phantasia and severely deficient autobiographical memory: Scientific and personal perspectives. Cortex, 105, 41-52.